Freitag, 9. Februar 2018

Warum ich mich einsetze



Im Kunstunterricht in der 6. Klasse mussten wir ein Protestplakat gegen Massenhaltung von Hühnern gestalten. Entsprechend der Vorbesprechungen schrieb ich auf mein Plakat ‚keine Hühner-Kazetts‘. Ich wurde von ein oder zwei Mitschülern ausgelacht. Ich hatte vorher noch nie von einem KZ gehört - das waren die 70er Jahre, als die intensivere Aufarbeitung des Nationalsozialismus erst losging - wusste nicht, wie man das schreibt. Aber das Lachen hat mich damals furchtbar beschämt. Kurze Zeit später sah ich das Theaterstück über das Tagebuch der Anne Frank auf einer kleinen Karlsruher Bühne. Danach habe ich mich intensiv über den Nationalsozialismus und seine Auswirkungen informiert, zuerst in Form von (Auto-)Biografien, später als Schülerin im Geschichte-Leistungskurs, und auch die ursprüngliche Wahl meiner Studienfächer, in der Geschichte als 2. Nebenfach auftauchte, hatte damit noch zu tun.
Die Vorstellung, dass im Namen des Volkes, dem ich durch Geburt angehöre, viele Millionen Menschen auf die unterschiedlichsten grausamen Arten umgebracht wurden, war mir damals und ist mir auch heute noch eine Unvorstellbarkeit. Erschütternd war die Erkenntnis, wie viele Menschen einfach mitgemacht haben, sich nicht dagegen aufgelehnt haben. Am schlimmsten allerdings fand ich, zu hören, dass es immer wieder Leute gab, die sagten ‚ich habe davon nichts gewusst‘.
Für mich war ein ‚nie wieder!‘ immer der wichtigste Auftrag, den wir aus der deutschen Geschichte übernommen haben. Und dieses ‚nie wieder!‘ beinhaltet für mich auch, frühzeitig gegen mögliche Fehlentwicklungen vorzugehen.
Als die Flüchtlinge des Jugoslawienkrieges kamen, war ich noch nicht so weit, dass ich mich engagieren konnte. Aber nachdem die EU den Nobelpreis für Menschenrechte bekommen hatte, für die angeblich so vorteilhafte und ruhmreiche Art und Weise mit Flüchtlingen umzugehen, und kurz danach wurde das sogenannte Dublin-III-Abkommen verabschiedet - da wuchs in mir die Bereitschaft. Ein Abkommen, in dem vereinbart wird, dass Flüchtlinge in dem Land politisches Asyl beantragen müssen, in welchem sie zuerst europäischen Boden betreten, bürdet den Großteil der Last den Außenstaaten auf, denn die wenigsten Flüchtlinge kommen mit dem Flugzeug. Die reicheren Länder halten sich das Thema auf diese Art vom Leib - oder wollen dies zumindest erreichen. Dann kamen Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien, ‚gute‘ Flüchtlinge, denn die hatten ja einen echten Grund, Krieg, und konnten politisches Asyl beantragen, sogar mit einiger Aussicht auf Erfolg. Trotzdem sollten sie massenweise in die Staaten zurückgeschoben werden, in denen zuerst ihre Fingerabdrücke genommen wurden. In Länder, in denen sie in Gefängnisse gesteckt und den Erzählungen Betroffener nach alles andere als menschlich behandelt wurden. Damit fing dann mein persönliches Engagement an - ich wollte mich dafür einsetzen, dass so ein organisatorischer Quatsch und so eine unwürdige Art, das ‚Problem‘ innerhalb Europas hin und her zu schieben, aufhört, und man endlich anfängt, diese Menschen als Menschen zu sehen und zu behandeln.
Seitdem ist viel passiert.
Es hieß mal „Wir schaffen das!“, und die Welle der Hilfs- und Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung war groß. Syrer haben es relativ einfach, Anerkennung oder wenigstens subsidiären Schutz zu bekommen, aber dafür haben sich die Absurditäten im Asylbereich in andere Bereiche verlagert. Man fragt sich, wer auf solche Ideen kommt, mit denen (vom Sozialministerium) Arbeitsverbote ausgesprochen werden für Leute, die gerade eine vom Kultusministerium desselben Bundeslandes geförderte Vorbereitungsklasse durchlaufen haben. Handwerksbetriebe, die händeringend nach Auszubildenden suchen, kriegen die Arbeitsgenehmigungen für die Leute, die sie sich ausgesucht und die in einem Praktikum ihre Tauglichkeit für diesen Beruf unter Beweis gestellt haben, nicht erteilt, weil diese aus ‚sicheren Herkunftsstaaten‘ kommen; stattdessen wird den Betrieben von der Ausländerbehörde der schlaue Ratschlag erteilt, sich doch einen anerkannten Asylbewerber zu suchen. In Deutschland werden Lager gebaut, die zwar nicht Konzentrationslager genannt werden, und vielleicht nicht direkt mit denen aus Zeiten des Nationalsozialismus verglichen werden können, aber es sind Lager, und darin werden Leute ‚bis zur Abschiebung‘ festgehalten. Das ist keine menschenwürdige Behandlung, und es widerstrebt meinem Gerechtigkeitsempfinden, meinem Bewusstsein, dass Deutschland durch seine historische Schuld eine besondere Verantwortung dafür hat, Flüchtlinge gut zu behandeln. 
Hier im Landkreis werden immer wieder Senegalesen nach Polizeikontrollen (oder auch ohne) mit Strafbescheiden beehrt wegen illegalen Aufenthaltes nach Ablehnung ihres Asylantrages. Die Strafen werden willkürlich festgelegt, schwanken zwischen €400 und €1300 Euro, und wenn man nicht dagegen Einspruch erhebt, gelten die Betroffenen danach als vorbestraft. Das sind dann die ‚Straftäter‘, die in Abschiebemaschinen gesetzt werden sollen. Wenn sie Einspruch erheben, kann es sein, dass sie freigesprochen werden, dann haben sie aber vielleicht Anwaltskosten zu begleichen, die sich auf Summen belaufen, die genauso hoch sind, wie die Strafbescheidskosten gewesen wären. Oder die Staatsanwaltschaft legt Berufung ein, weil sie, obwohl der Richter der ersten Instanz eine ausreichende Mitwirkung bei der Identitätsfeststellung gesehen hat, es für zumutbar hält, weitere Anstrengungen bei der Passbeschaffung zu unternehmen. 
Da wird argumentiert, als ob die afrikanischen Länder genauso behördlich organisiert sind wie Deutschland, und Aussagen von deutschen Experten, die angeblich 20 Jahre dort im Land gelebt haben, aber nicht mal die gängige Landessprache sprechen, gelten mehr als die Aussagen der Flüchtlinge, die beschreiben, dass die verlangten Schritte nur über Bestechungsaktivitäten zu erreichen sind. Die Staatsanwaltschaft verlangt also, dass eine Dokumentenbeschaffung über illegale Methoden (Bestechung ist auch im Senegal gesetzlich verboten) zu versuchen sei - noch habe ich von keinem erfolgreichen Versuch dieser Art erfahren - aber ich frage mich, ob die Betroffenen dann wegen illegaler Beschaffung von Dokumenten oder Dokumentenfälschung angeklagt werden sollen. In das weite Thema der Taskira-Beschaffung von Afghanen will ich hier gar nicht einsteigen.

Vor zwei Wochen fiel mir nun das Buch „Das Erbe der Rosenthals“ von Armando Lucas Correa in die Hände, in dem ein Erzählstrang vom Schiff St. Louis handelt, das mit fast 1000 jüdischen Flüchtlingen an Bord von der Regierung von Kuba am Anlegen gehindert wurde, die Flüchtlinge mussten zurück nach Europa, obwohl fast alle ein gültiges Einreisevisum in die USA besaßen und nur eine kurze Zeit auf Kuba warten wollten, bis ihre Einreisenummer an der Reihe war. Dass damals so gehandelt wurde, haben die offiziellen Seiten mittlerweile alle bedauert, ihr Mitgefühl für die Opfer ausgedrückt - und das wiederum ist nun noch nicht so lange her. Allerdings war es lange her, dass die Opfer darunter gelitten hatten. Jetzt haben wir ähnliche Situationen, überall auf der Welt. Und versuchen doch immer wieder nur, durch Mauern, Abschiebungen, Verhinderungen Veränderungen aufzuhalten, die die westlichen Staaten in vielen Fällen mit zu verantworten haben. 
Haben wir wirklich nichts kapiert? Jedenfalls möchte ich aber nicht in ein paar Jahren zu denen gehören, die sagen ‚ich habe nichts gewusst‘. Wir alle können es wissen, wir haben genügend historische Beispiele. Vielleicht werde ich mein persönliches Ziel nicht erreichen, Staatslinien und ihre ausführenden Organe sind stark. Und meine Kraft ist endlich, auch wenn ich immer wieder neue Kampfeskraft entwickle und mich manchmal selbst frage, woher die eigentlich noch kommt. Aber ich möchte mir selbst später noch im Spiegel ins Gesicht sehen können und sagen ‚ich habe getan, was ich konnte, um diesen Menschen in ihrer Zeit hier beizustehen soweit es irgendwie möglich ist‘. 


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