Im Kunstunterricht in der 6. Klasse mussten wir ein
Protestplakat gegen Massenhaltung von Hühnern gestalten. Entsprechend der
Vorbesprechungen schrieb ich auf mein Plakat ‚keine Hühner-Kazetts‘. Ich wurde von
ein oder zwei Mitschülern ausgelacht. Ich hatte vorher noch nie von einem KZ
gehört - das waren die 70er Jahre, als die intensivere Aufarbeitung des
Nationalsozialismus erst losging - wusste nicht, wie man das schreibt. Aber das
Lachen hat mich damals furchtbar beschämt. Kurze Zeit später sah ich das
Theaterstück über das Tagebuch der Anne Frank auf einer kleinen Karlsruher
Bühne. Danach habe ich mich intensiv über den Nationalsozialismus und seine
Auswirkungen informiert, zuerst in Form von (Auto-)Biografien, später als
Schülerin im Geschichte-Leistungskurs, und auch die ursprüngliche Wahl meiner
Studienfächer, in der Geschichte als 2. Nebenfach auftauchte, hatte damit noch
zu tun.
Die Vorstellung, dass im Namen des Volkes, dem ich durch
Geburt angehöre, viele Millionen Menschen auf die unterschiedlichsten grausamen
Arten umgebracht wurden, war mir damals und ist mir auch heute noch eine
Unvorstellbarkeit. Erschütternd war die Erkenntnis, wie viele Menschen einfach
mitgemacht haben, sich nicht dagegen aufgelehnt haben. Am schlimmsten allerdings
fand ich, zu hören, dass es immer wieder Leute gab, die sagten ‚ich habe davon
nichts gewusst‘.
Für mich war ein ‚nie wieder!‘ immer der wichtigste Auftrag,
den wir aus der deutschen Geschichte übernommen haben. Und dieses ‚nie wieder!‘
beinhaltet für mich auch, frühzeitig gegen mögliche Fehlentwicklungen
vorzugehen.
Als die Flüchtlinge des Jugoslawienkrieges kamen, war ich
noch nicht so weit, dass ich mich engagieren konnte. Aber nachdem die EU den
Nobelpreis für Menschenrechte bekommen hatte, für die angeblich so vorteilhafte
und ruhmreiche Art und Weise mit Flüchtlingen umzugehen, und kurz danach wurde
das sogenannte Dublin-III-Abkommen verabschiedet - da wuchs in mir die
Bereitschaft. Ein Abkommen, in dem vereinbart wird, dass Flüchtlinge in dem
Land politisches Asyl beantragen müssen, in welchem sie zuerst europäischen
Boden betreten, bürdet den Großteil der Last den Außenstaaten auf, denn die
wenigsten Flüchtlinge kommen mit dem Flugzeug. Die reicheren Länder halten sich
das Thema auf diese Art vom Leib - oder wollen dies zumindest erreichen. Dann
kamen Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien, ‚gute‘ Flüchtlinge, denn die hatten
ja einen echten Grund, Krieg, und konnten politisches Asyl beantragen, sogar mit
einiger Aussicht auf Erfolg. Trotzdem sollten sie massenweise in die Staaten zurückgeschoben
werden, in denen zuerst ihre Fingerabdrücke genommen wurden. In Länder, in
denen sie in Gefängnisse gesteckt und den Erzählungen Betroffener nach alles
andere als menschlich behandelt wurden. Damit fing dann mein persönliches Engagement
an - ich wollte mich dafür einsetzen, dass so ein organisatorischer Quatsch und
so eine unwürdige Art, das ‚Problem‘ innerhalb Europas hin und her zu schieben,
aufhört, und man endlich anfängt, diese Menschen als Menschen zu sehen und zu
behandeln.
Seitdem ist viel passiert.
Es hieß mal „Wir schaffen das!“, und die Welle der Hilfs-
und Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung war groß. Syrer haben es relativ
einfach, Anerkennung oder wenigstens subsidiären Schutz zu bekommen, aber dafür
haben sich die Absurditäten im Asylbereich in andere Bereiche verlagert. Man
fragt sich, wer auf solche Ideen kommt, mit denen (vom Sozialministerium) Arbeitsverbote
ausgesprochen werden für Leute, die gerade eine vom Kultusministerium desselben
Bundeslandes geförderte Vorbereitungsklasse durchlaufen haben. Handwerksbetriebe,
die händeringend nach Auszubildenden suchen, kriegen die Arbeitsgenehmigungen
für die Leute, die sie sich ausgesucht und die in einem Praktikum ihre
Tauglichkeit für diesen Beruf unter Beweis gestellt haben, nicht erteilt, weil
diese aus ‚sicheren Herkunftsstaaten‘ kommen; stattdessen wird den Betrieben von
der Ausländerbehörde der schlaue Ratschlag erteilt, sich doch einen anerkannten
Asylbewerber zu suchen. In Deutschland werden Lager gebaut, die zwar nicht
Konzentrationslager genannt werden, und vielleicht nicht direkt mit denen aus
Zeiten des Nationalsozialismus verglichen werden können, aber es sind Lager,
und darin werden Leute ‚bis zur Abschiebung‘ festgehalten. Das ist keine
menschenwürdige Behandlung, und es widerstrebt meinem Gerechtigkeitsempfinden,
meinem Bewusstsein, dass Deutschland durch seine historische Schuld eine besondere
Verantwortung dafür hat, Flüchtlinge gut zu behandeln.
Hier im Landkreis werden
immer wieder Senegalesen nach Polizeikontrollen (oder auch ohne) mit
Strafbescheiden beehrt wegen illegalen Aufenthaltes nach Ablehnung ihres
Asylantrages. Die Strafen werden willkürlich festgelegt, schwanken zwischen €400
und €1300 Euro, und wenn man nicht dagegen Einspruch erhebt, gelten die
Betroffenen danach als vorbestraft. Das sind dann die ‚Straftäter‘, die in
Abschiebemaschinen gesetzt werden sollen. Wenn sie Einspruch erheben, kann es
sein, dass sie freigesprochen werden, dann haben sie aber vielleicht Anwaltskosten
zu begleichen, die sich auf Summen belaufen, die genauso hoch sind, wie die
Strafbescheidskosten gewesen wären. Oder die Staatsanwaltschaft legt Berufung
ein, weil sie, obwohl der Richter der ersten Instanz eine ausreichende Mitwirkung
bei der Identitätsfeststellung gesehen hat, es für zumutbar hält, weitere
Anstrengungen bei der Passbeschaffung zu unternehmen.
Da wird argumentiert, als
ob die afrikanischen Länder genauso behördlich organisiert sind wie
Deutschland, und Aussagen von deutschen Experten, die angeblich 20 Jahre dort im
Land gelebt haben, aber nicht mal die gängige Landessprache sprechen, gelten
mehr als die Aussagen der Flüchtlinge, die beschreiben, dass die verlangten
Schritte nur über Bestechungsaktivitäten zu erreichen sind. Die Staatsanwaltschaft
verlangt also, dass eine Dokumentenbeschaffung über illegale Methoden (Bestechung
ist auch im Senegal gesetzlich verboten) zu versuchen sei - noch habe ich von
keinem erfolgreichen Versuch dieser Art erfahren - aber ich frage mich, ob die
Betroffenen dann wegen illegaler Beschaffung von Dokumenten oder Dokumentenfälschung
angeklagt werden sollen. In das weite Thema der Taskira-Beschaffung von
Afghanen will ich hier gar nicht einsteigen.
Vor zwei Wochen fiel mir nun das Buch „Das Erbe der Rosenthals“ von Armando Lucas Correa in die Hände, in dem ein Erzählstrang vom Schiff St. Louis handelt,
das mit fast 1000 jüdischen Flüchtlingen an Bord von der Regierung von Kuba am
Anlegen gehindert wurde, die Flüchtlinge mussten zurück nach Europa, obwohl
fast alle ein gültiges Einreisevisum in die USA besaßen und nur eine kurze Zeit
auf Kuba warten wollten, bis ihre Einreisenummer an der Reihe war. Dass damals
so gehandelt wurde, haben die offiziellen Seiten mittlerweile alle bedauert,
ihr Mitgefühl für die Opfer ausgedrückt - und das wiederum ist nun noch nicht
so lange her. Allerdings war es lange her, dass die Opfer darunter gelitten
hatten. Jetzt haben wir ähnliche Situationen, überall auf der Welt. Und
versuchen doch immer wieder nur, durch Mauern, Abschiebungen, Verhinderungen
Veränderungen aufzuhalten, die die westlichen Staaten in vielen Fällen mit zu verantworten
haben.
Haben wir wirklich nichts kapiert? Jedenfalls möchte ich aber nicht in
ein paar Jahren zu denen gehören, die sagen ‚ich habe nichts gewusst‘. Wir alle
können es wissen, wir haben genügend historische Beispiele. Vielleicht werde
ich mein persönliches Ziel nicht erreichen, Staatslinien und ihre ausführenden
Organe sind stark. Und meine Kraft ist endlich, auch wenn ich immer wieder neue
Kampfeskraft entwickle und mich manchmal selbst frage, woher die eigentlich
noch kommt. Aber ich möchte mir selbst später noch im Spiegel ins Gesicht sehen
können und sagen ‚ich habe getan, was ich konnte, um diesen Menschen in ihrer
Zeit hier beizustehen soweit es irgendwie möglich ist‘.
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